Post an Wagner

„Kommen Sie herein, ich zeige Ihnen die Wohnung, sie ist identisch mit Ihrer.“ Und schon stehe ich in Herrn Wagners Wohnung. Links das Schlafzimmer, ungebettet. Rechts die Bibliothek und anschliessend sein Arbeitszimmer. Auf dem Bürotisch steht ein Glas Weisswein, daneben der Aschenbecher und eine Packung Gitanes. Im Flur eine Schwarzweissfotografie. Muhammed Ali, sitzend auf einem Stuhl. Daneben Herr Wagner, um die dreissig. „Das war kurz vor seinem legendären Kampf in Manila“, beantwortet er meine Frage. „1975, gegen Joe Frazier. Ich konnte Ali damals 2 Wochen als Journalist begleiten.“

Es war nachmittags um drei Uhr, als ich Herrn Wagner im Treppenhaus kreutze. Das ist schon öfters passiert. Mehr als zu einem gegenseitig unverbindlichen „Guten Tag“ kam es nie. Heute war es anders. Nichts würde ich jetzt lieber tun, als mich hinsetzen, Weisswein trinken, Gitanes rauchen und Herrn Wagner zuhören. Erzählen hören, Geschichten, die man sonst nur in Büchern liest. Geht nicht. Kann mich erstens nicht selber einladen und zweitens kommen die Kinder in einer halben Stunde nach Hause. „Sie wissen es vielleicht“, fährt er fort, „ich schreibe täglich eine Kolumne, „Post von Wagner,“ und alle zwei Jahre ein Buch. Kommen Sie, schauen Sie hier unten, nehmen Sie eins bevor Sie gehen“.

„Brief an Deutschland“ steht auf dem Buchdeckel. Und weiter: „Franz Josef Wagner ist der bekannteste Unbekannte der Deutschen Medienwelt. In seinem neusten Buch erzählt das letzte Genie des Boulevards sein Leben, gespiegelt in siebzig Jahren Zeitgeschichte.“

Ich bin nicht bekannt als Bücherwurm. Im Gegenteil. „Hast Du Dir wieder einmal vorgenommen zu lesen?“, witzeln Janina und Kasimir, wenn ich, wie alle andern auch, für die Ferien Bücher einpacke. „Brief an Deutschland“ lese ich in einem Rutsch. Ich sauge das Buch auf. Bin abgetreten in Wagners Welt. In einer mir fremden Welt entsteht ein Gefühl von Vertrautheit.

„Auf Wiedersehen, und lassen Sie uns mal ein Glas Wein trinken“, haben Sie zum Abschied gesagt. Warum findet diese Begegnung erst jetzt statt? Fast 30 Monate hat es gedauert, bis wir ein Wort gewechselt haben. Nicht weil sie mir unsympathisch waren. Im Gegenteil. Sie sind mir aufgefallen und wären wir uns anderswo als im Hausgang begegnet, ich hätte Sie bestimmt angesprochen. Doch ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass ich etwas falsch gemacht habe. Damals vor 30 Monaten. Wir hätten Sie und all die anderen Mitbewohner einladen sollen. Uns bekanntmachen. Mit einem Glas Wein auf ein Miteinander anstossen. So wie wir es sonst immer gemacht haben. Ausser eben diesmal nicht. Warum? Weil ich Vorbehalte hatte gegen unsere neue Wohnung. Vorbehalte gegenüber unserer Hausherrin, die keinen Zweifel aufkommen liess: Das ist ein ordentliches Haus. Hier herrscht Zucht und Ordnung. Und folglich: Wer soll hier drin schon wohnen ausser unsympathischen Leuten? Ich liess den inneren Laden herunter. Und blieb ein stummer Nachbar. Gehört haben Sie uns trotzdem.

Seit 30 Monaten trampeln wir täglich auf Ihnen herum. Dort, wo Sie ihren Schlaf suchen, haben wir, einen Stock höher, unsere Garderobe! Morgens um 8 beginnt bei uns die Rush Hour! Ich bin mir ziemlich sicher: 8 Uhr morgens sind sie erst ein paar Stunden im Bett. Sie haben sich nie beschwert. Einzig die Hausherrin hat bei einer Inspektion erwähnt, dass Sie das Zimmer unter unserer Garderobe haben und wir doch bitte... Doch eine Familie kann nicht geräuschlos leben, bei aller Rücksicht nicht.

Gestern ist alles auf einmal gekommen. Sie wurden zum Nachbar aus Fleisch und Blut. Und erzählten mir in dem Buch Ihre Geschichte. Vielleicht ist noch Zeit für ein Glas Wein. Doch in drei Monaten ziehen wir schon weiter. Die Chance auf diese Nachbarschaft ist verstrichen. Was nehme ich davon mit nach Afrika, unsere nächste Station? Man soll ein Haus nicht mit den Menschen verwechseln, die darin wohnen. Den inneren Laden nicht zu weit herunterlassen. Mindestens einen Spalt sollte er offen bleiben. Damit man sehen kann, wem man da, ungewollt, auf dem Kopf herumtrampelt, als Fremder, als Bekannter, als Nachbar. Und auch als Kollege. Auch Sie, Herr Wagner, sind ja Kolumnist. Zwar nicht für das Urner Wochenblatt. Aber immerhin für die „Bild“-Zeitung in Deutschland. Fünf Mal in der Woche. Für 2 Millionen Leser. Ich grüsse Sie einen Stock tiefer. Und natürlich Sie, liebe Leser, wo immer Sie sich gerade befinden.
Herzlich aus Berlin

Waldemar Krupski

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