Blanket Man

Liebe Berlinerien!!! Wir sparen Geld für etwas zu Trinken und zu Essen. Vielen Dank. (Bahnhof Zoo, Juni 2015)

Liebe Berlinerien!!! Wir sparen Geld für etwas zu Trinken und zu Essen. Vielen Dank. (Bahnhof Zoo, Juni 2015)

„Paaa, Paaa“, ruft Nikolai als er von der Schule nach Hause kommt und dabei die Wohnungstür fast einrennt. „ Paaa, ich ha dr Blanket Man (der Mann mit der Decke) gseh. Är läbt nuh!“. Noch ausser Atem von den drei hinaufgestürmten Stockwerken, erzählt er aufgeregt von dem soeben Erlebten:  „Am Bahnhof han ich ihn gseh. Är gseht gar nid so schlächt üs  und het süberi Hosä ah.“

„Blanket Man“, so nannte die Bevölkerung von Wellington, Neuseeland liebevoll ihren, notabene einzigen, stadtbekannten Penner. Er gehörte, eingewickelt in seine Decken, jahrelang  zum Stadtbild von Wellington. Und als er im Sommer 2012 unerwartet vom Stadtbild verschwand, sprachen alle die ihn kannten - und wir alle kannten ihn-, über Blanket Man und sicherten sich gegenseitig  ihre Betroffenheit zu. So betroffen, dass die zweitgrösste Tageszeitung von ganz Neuseeland auf der Titelseite schrieb: Wellington’s Blanket Man dies  (Mann mit der Decke gestorben) und schrieb ihm zu Ehren einen Nachruf.

Wir alle freuen uns, dass unser Berliner „Blanket Man“ also noch lebt. Unsere Befürchtung und auch Sorge, dass er die kalten Wintermonate nicht überlebt hätte, sind nicht eingetroffen. „Blanket Man“ war sozusagen unser erster „Bekannter“ als wir vor fast einem Jahr von Wellington nach Berlin zogen. Mit nacktem Oberkörper und Hosen, die mehr Löcher als Stoff aufwiesen und zeitweise nicht einmal das Nötigste verhüllten, stand er tag- und nächtelang am Hauptbahnhof in Berlin. Nicht bettelnd, manchmal laut, Unverständliches brüllend, oft schweigend mit starrem Blick.  Passanten und Bahnhofpolizei welche sich bereits an das groteske Bild gewöhnt hatten, liefen achtlos an ihm vorbei; manchmal steckte ihm jemand etwas zu essen oder trinken zu. Wer ihn nicht kannte, starrte ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination aus sicherer Entfernung an. So auch Nikolai. Wann immer wir ihn sahen, blieb er stehen, um mir anschließend Löcher in den Bauch zu fragen: „ Worum läüft Polizei eifach verby? Warum berchunnt är keine nüiy Chleider? Nimmt är Drogä?  Isch är behinderät? Ja, Blanket Man hat ihn nachhaltig beeindruckt.  Schon bald aber stellte er fest, dass es hier in Berlin nicht den „Blanket Man“ gibt, sondern hunderte von „Blanket Man“ und „Blanket Woman“. Sie sind überall. Und jetzt, wo die Tage wieder wärmer werden, werden es täglich mehr. Auch ich bin verunsichert, ja unangenehm berührt, wenn eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoss den Arm nach mir ausstreckt, um für Kleingeld zu betteln. Was tun, wenn wir an einem lauen Frühlingsabend in der Eisdiele vis-à-vis sitzen und ein völlig kaputter, junger Mann uns für ein paar Euros anspricht? Weil ich auf diese und Nikolais Fragen keine Antwort wusste, habe ich mich bei der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo für ehrenamtliche Mitarbeit gemeldet.  Nach einigen Tagen erhielt ich vom Koordinator Ehrenamt folgende Antwort: „Momentan ist die Lage glücklicherweise so, dass über 130 Helfer rund um die Uhr bei uns tätig sind und wir somit bestens abgedeckt sind…“ Mich hat diese hohe Zahl an ehrenamtlichen MitarbeiterInnen gefreut. Auch wenn ich etwas enttäuscht war, dass unsere Fragen nicht so beantwortet werden, wie ich das geplant hatte. Aber ich habe einen Plan B: Nächstes Mal, wenn ich „unseren  Blanket Man“ sehe, nehme ich all meinen Mut zusammen, geselle mich zu ihm und stelle ihm all die Fragen, auf welche Nikolai und ich gerne eine Antwort hätten. Und, ob richtig oder falsch, ich kaufe ihm eine Flasche Bier!

Frühlingsgrüsse aus Berlin schickt

Waldemar Krupski