Tschüssi

Spätestens heute Morgen, als Marion leicht genervt feststellte, dass der Frühlingsputz früher halt schon seinen Sinn gehabt hat und wir ihn in Dakar wieder einführen sollten, spätestens jetzt ist auch dem Rest der Familie klar: Es wird ernst. Wir ziehen weiter. In den kommenden Tagen herrscht bei uns Ausnahmezustand. Aber nach drei Jahren Alltagsleben mitten in Berlin sind wir mit dem  Ausnahmezustand vertrauter als früher. Weil: Berlin ist auf seine besondere Weise 365 Tage im Jahr Ausnahmezustand. Berlin ist nicht Deutschland, schon gar nicht Süddeutschland. Der Berliner ist ziemlich stressresistent. Und er lässt sich auch nicht stressen. Ausser beim Autofahren. Insbesondere am Freitagmittag Richtung stadtauswärts. Da wird gehupt und geflucht, da geht die Post ab. Jetzt hat es der Berliner plötzlich pressant. Am Freitagmittag beginnt in Berlin nämlich das Wochenende. „Freitag um eins, da macht jeder seins“, heisst das Motto. Freitagmittag lässt man pünktlich den Hammer oder den Griffel fallen, macht der Bauarbeiter, der Anwalt und wahrscheinlich auch die Müllmänner dicht. Vor Montagmorgen, allerfrühstens um 8 Uhr, geht in Berlin gar nichts mehr. Da braucht der Berliner seine Ruhe. Wochentags um 7 Uhr in der Früh sind die Strassen leer. Dann hat es in den S- und U- Bahnen immer genügend Sitzplätze. Und die, die schon unterwegs sind, sind zu müde zum Meckern.

Schon gehört von der Berliner Schnauze? Sie ist nicht charmant. Aber herzlicher, als oft erzählt. Nie vergesse ich meinen ersten Einkauf, als ich am Gemüsestand eine Verkäuferin nach den Himbeeren fragte. “Na, machense mal die Oogen uff, die liejen jenau vor Ihnen“, und zeigt mit dem Zeigfinger auf die Beeren. Als ich ein paar Minuten später bei ihr bezahlte sagte sie zu mir: „Na, schöne Himbeeren haben wir heute, wa? Haben Sie Spass damit. Tschüssi!“ Tschüssi? Dieses Tschüssi tönt so, als hätten wir eben zwei Stunden bei Kerzenlicht verbracht. Dieses Tschüssi begegnet dir in Berlin täglich, überall. Es ist ansteckend. Ansteckend sympathisch. Ich benutze es auch täglich. Versehentlich auch in Altdorf an der Kasse. Exgüsi für die Irritation.

Wussten Sie, dass Berlin in zahlreichen Disziplinen Spitzenreiter ist? Zum Beispiel in der Streikdisziplin. Zuerst streiken die S-Bahn-Piloten. Kaum machen die Pause, streiken die Bus-Piloten. Irgendwann fanden dann die richtigen Piloten, dass sie auch im 21. Jahrhundert mit 55 Jahren in den Ruhestand gehören. Streik! Und natürlich die Lehrer. Die Berliner Lehrer streiken auch oft. Noch öfters sind sie krank. Es wird gemurmelt, das sei der Grund, warum die Berliner Schulen seit Jahren von allen Bundesländern immer am schlechtesten abschneiden. Spitzenreiter auch da. Ebenso wie beim Kulturangebot, bei der Anzahl Schrebergärtner, Döner Kebab-Buden, beim ökologischen Bauen.

„Berlin, Du bist so wunderbar“ singt der Werbefilm vom Berliner Pilsner. Besser kann man Berlin in 20 Sekunden nicht beschreiben. Berlin du bist wunderbar! Wunderbar tolerant, wunderbar desinteressiert daran, was der andere macht oder eben nicht macht. Wunderbar anstrengend und wunderbar entspannt. Wunderbar direkt. In vielerlei Dingen wunderbar unpreussisch.

Ja, du machst es mir einfach aufzuzählen, was ich bald vermissen werde.

Tschüssi Berlin. Ick kann dir jut leiden.

Das war‘s aus Berlin.

Herzlich,

Waldemar