ich nicht darauf vertraue, dass eine höhere Macht nach mir ruft, wenn die Zeit gekommen ist. Und weil ich mich auf das Unvermeidliche vorbereiten will, mir alle zur Verfügung stehende Optionen offen halten will. Und weil ich dankbar bin, einem Land zuzugehören, welches seinen Bürgern auch ihre letzte Wahl zugesteht.
Ich bin 55 Jahre alt. Mit 55, sagt mir die Statistik, gehören ca. 2/3 der Lebenszeit bereits der Vergangenheit an, 1/3 noch der Zukunft. Verbleiben rechnerisch also noch 29 Jahre, bis ich den statistischen Wert der Lebenserwartung von in der Schweiz lebenden Männern erreicht habe. Gefühlt eine halbe Ewigkeit.
Mein Vater liess sich mit 55 Jahren pensionieren, auch weil er dachte, mit 65 sei sein Ende nah. Das sei so in seiner «DNA festgesetzt». Mehr wurde «darüber» nicht gesprochen. Er lebte noch 21 Jahre weiter. Davon knapp 20 bei guter Gesundheit. Trotzdem haderte er mit seinem Los, als der Sensemann vor seiner Türe stand.
Meine Mutter wurde 91 Jahre alt. Die letzten vier Jahre verbrachte sie in einem Altersheim in einer geschützten Wohngruppe für demenzkranke Menschen. Die wenigen Male, die ich dort zu Besuch war (ich lebte damals mit meiner Familie in Neuseeland), liessen mich immer traurig und ratlos zurück. «Ach, wann kommt er (der liebe Gott) mich endlich holen?» Sie sagte es als Aufforderung, weniger als Frage. Immer belastete mich die Frage: Ist das noch ein lebenswertes Leben? Und wem steht es zu, das zu beurteilen? Nur den Betroffenen? Aber was, wenn Instanzen entscheiden, weil Betroffene selbst nicht mehr entscheiden können? Der Nachruf von meiner Mutter beginnt mit dem Satz: «Das Herz vom Mämsli hat aufgehört zu schlagen. Endlich, lange schon hat sie geduldig darauf gewartet“.
Meine Schwiegermutter erfuhr am 24. Dezember, als sie bei uns zu Besuch weilte, dass sie Leberkrebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Meine Frau, ihre Tochter, drängte sie an diesem Tag zum Arztbesuch, weil es ihr sichtlich nicht gut ging. Weil wir alle nicht wirklich an Wunder glauben, wussten wir auch, dass es unsere letzten gemeinsamen Weihnachten sein werden. Ja, sie hätte uns gerne noch ein paar Jahre begleitet. Hätte gerne noch erlebt, welchen Weg ihre Grosskinder dereinst einschlagen werden. Und wir alle hätten sie noch sehr gerne etwas länger bei uns gehabt. Die letzten Tage verbrachte sie in einem Hospiz, und ich erinnere mich, wie sie ihrer Tochter sagte: «Informiere bitte EXIT, dass ich da bin.» «Du brauchst EXIT nicht, Mama, es wird schon bald soweit sein», war ihre Antwort. Drei Wochen nach der Diagnose ist sie gestorben. In ihrer Wohnung war ein Ordner hinterlegt, wo sie alles notiert hatte, was es zu tun gibt und was bitte zu unterlassen sei. Sie bleibt mir ein Vorbild. Ihr Ehemann starb 32 Jahre früher, 1983. Schwer erkrankt an Multipler Sklerose, mit Hilfe von EXIT. Meine Schwiegereltern gehörten damals in Zürich zu den Gründungsmitgliedern des Vereins.
Ich schreibe dies, weil meine Eltern und Schwiegereltern stellvertretend für verschiedene Möglichkeiten stehen, wie man sich aus dem Leben verabschiedet. Sagt das Sterben auch etwas über unser Leben aus? Weil ich mir über solche und ähnliche Fragen Gedanken mache, bin ich seit 30 Jahren Mitglied bei EXIT. Damals, als ich meine Frau im protestantischen Zürich kennen lernte, war vielleicht auch ein Anteil Abgrenzung zum Elternhaus und zum katholischen Kanton Uri mitverantwortlich für dem Beitritt zum Verein. Gezweifelt, dass es die richtige Entscheidung für mich ist, habe ich noch nie. Im Gegenteil. Meine Mitgliedschaft beim Verein EXIT fordert mich, über meinen letzten statistischen Lebensdrittel nachzudenken. Über das Leben! Mehr als über den Tod.